Prolog
Der Frühling kehrt in den Breitengraden der Neun Reiche ein. Es ist Hochsaison für Wanderhandwerker. Der Zimmermann Zark ist mit seiner Ziege Klara schon seit sieben Wintern in den westlichen Königreichen unterwegs und genießt das Wanderarbeiter-Leben. Er repariert hier und da mal ein Dach und errichtet ab und zu mal eine kleine Scheune. Obwohl er Talent zu mehr hätte, begnügt er sich mit eher einfachen Aufträgen. So zog er, wie jeden neuen Frühling, seine ertragsreichste Route, an vier Bauernhöfen und einem größeren Dorf entlang.
Doch seit dem Ende der letzten Wintersonnenwende hat sich etwas in den westlichen Reichen verändert. Die lange Kälteperiode ließ die Vorräte der Bevölkerung drastisch verknappen – Unmut machte sich breit. In den Reihen der Menschen wuchs, geschürt von Lügen und Hass, der Neid. Sie wollten nicht teilen und alles für sich behalten. Der erste bekannte Zwischenfall ereignete sich beim königlichen Heer. In jener Nacht, in der die Stimmung kippte, färbte sich die wütende Meute die Helme schwarz mit Pech. Danach meuchelte und ermordete man alles was nicht menschlich war – aus Neid und Angst, selbst Opfer von Hunger oder einem scharfen Dolch zu werden.
Die Kunde des Vorfalls verbreitete sich wie ein Lauffeuer und schnell
wurde klar, dass es kein Zufall war, dass hauptsächlich Nicht-Menschen
die Opfer waren... immer wieder hörte man einen Namen: Ceadric, Ceadric
der Reine. Viel wusste man über diesen Mann nicht, nur dass er der
begnadete Heerführer des drittstärksten Bataillons der westlichen Reiche
war und lange treu dem König diente.
Kapitel I – Die einst ertragreichste Route
Er löschte das Feuer, legte seine Decke zusammen, verpackte sein angeknabbertes Frühstück und verstaute alles in einem Leinensack. Er warf Klara, seiner Ziege die gerade etwas Salz von den Steinen leckte, das Geschirr um und befestigte einen Karren an ihr. Voll mit altem, aber sehr gepflegtem Werkzeug, knarzte die Achse des Wagens als er losging und die Ziege mitsamt dem Karren folgte. Lange dauerte es nicht, bis sie raus aus dem Wald und auf einem Schotterweg waren. Zark kannte das Gebiet, er war schon mehr als einmal hier. So bewegten sie sich langsam, aber stetig voran – mit einer lockeren Melodie, die Zark vor sich hin pfiff.
Mehrere Gehminuten vor dem ersten größeren Dorf, Fitzwald, baumelte ein
lebloser Körper an einem frisch errichteten Galgen. Er spürte wie ein
kalter Schauer seinen Nacken nach oben wanderte... Es passte nicht zu
dieser Stelle, zu diesem Ort, an dem die Vögel den Frühling besingen und
das Summen der Bienen den angrenzenden Wald brummen ließ. Widerwillig
blickte er zum Galgen hinauf. Er kannte die grüne Haut, das leere
Gesicht. Es war ein Bauernknecht, mit dem er noch letzten Herbst in der
Fitzwald-Taverne ein nettes Gespräch, bei einem Krug Met, führte. An
seinen Namen konnte er sich leider nicht mehr erinnern, jedoch an seinen
letzten Satz: "Wir sehen uns im Frühling, Zark!"
Er wusste nicht wie lange er fassungslos da stehen blieb. Es war jedoch lange genug, damit seine Ziege begann das frisch gewachsene Graß am Rand des Schotterpfads anzuknabbern. Neben dem lauten Schmatzen Klaras hörte er das traben eines Pferdes hinter sich. Er drehte sich um und ging zur Seite. Ein gepanzerter Krieger, hoch zu Ross, in der Uniform des westlichen Heeres, ritt ihm entgegen. Des Kriegers kalter Blick durchbohrte ihn schon aus der Ferne mit Verachtung. Das Pferd trottete Zark und Klara langsam entgegen. Er hörte das Klirren schwerer Ketten und regelmäßige grunzartige Geräusche. Am Sattel der Stute war eine kurze, starke Kette befestigt. Am Ende dieser befand sich ein breit gebautes, muskulöses grünes Wesen – die Hände in Ketten, mit einem Sack über dem Kopf und Wunden am ganzen Körper.
Der Reiter, mit dem Schwert am Rücken befestigt, blieb stehen. Sein Arm wanderte nach oben in Richtung Schwertknauf. Das grüne Wesen grunzte weiter und Zark fing an vor Aufregung zu zittern. Doch er bewegte sich keinen Schritt – mutig blieb er stehen. Als der Reiter den Knauf packt, schien das Wesen das Geräusch des wackelnden Schwertgriffs in der Scheide zu erkennen – es stemmte sich in die Erde und zog ruckartig an der Kette. Das Pferd macht einen Ausfallschritt, um nicht zu kippen. Der Reiter klemmte sich in den Sattel, um nicht zu stürzen und ließ vom Schwert ab. Der Krieger versuchte erneut, sein Schwert zu packen. Doch wieder riss der grüne Fleischberg an der Kette und ließ ein tiefes grollen ertönen. Der Reiter blickte Zark wütend an und sagte: "Du hast Glück, dass ich dieses grüne Mistvieh an der Kette hab, sonst wärst du schon einen Kopf kürzer, du Missgestalt!". Der gepanzerte Krieger setzte seinen Weg fort und sagte mit ruhiger Stimme zu seinem Häftling: "Das wirst du mir doppelt büßen, Einauge..."
Zark, fassungslos über das was gerade geschah, nahm erstmal einen Schluck Wasser und versuchte dann den erhängten Bauernknecht vom Galgen zu bekommen – um ihn anständig zu begraben. Danach zog er mit Klara wieder in Richtung Wald. Die Straße in dieser einst friedlichen Gegend schien ihm nun zu gefährlich geworden.